Flurdenkmale im Wandel der Zeit
Was die Stifter, Handwerker und Künstler meinen oder erleben, wenn sie ihr Werk in Auftrag geben und schaffen, muss nicht gleichbedeutend sein mit dem Gehalt, den die Betrachter später erleben. „Was also waren die hier zu behandelnden barocken Bildstöcke, welche Rolle haben diese, Heiligenfiguren“, gespielt, nicht für die sie geschaffen wurden, für die Gläubigen, die Bittenden, die Sühnenden. Die Funktionen, die ein Bildstock für immer neue Generationen erfüllt, wechseln ganz beträchtlich und müssen sich durchaus nicht mehr decken mit den Intentionen derjenigen, die ihn gesetzt haben. Er kann als Lichtsäule auf einem Friedhof festiftet werden. Er kann im 16. Jahrhundert zum Türkenkreuz werden, wenn er eine Inschrift erhält, die an die Wiedergewinnung von Raab aus der Hand des Erzfeindes der Christenheit erinnert. Er wird vielleicht im 17. Jahrhundert zum „Schwedenkreuz“, das an die Einfälle aus dem Norden gegen Ende des Dreissigjährigen Krieges gemahnt. Das 18. Jahrhundert kann ihn umgestalten zu einem „figuralen Bildstock“ etwa mit einer Mariendarstellung. Das 19. Jahrhundert hat in napoleonischer Zeit vielleicht ein Franzosenkreuz aus ihm gemacht. Im 20. Jahrhundert fungiert er möglicherweise als Kriegerdenkmal.
Jedenfalls zeigt sich im späten 19. Jahrhundert, besonders aber im Gefolge der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts ein zunehmender Funktionswandel der Flurdenkmale: Die Vielfalt der einstigen Zweckbestimmungen geht verloren, die meisten neuen Male gelten dem Gedenken an Verstorbene oder sind Andachtsstätten allgemeiner Art. Das Kriegerdenkmal wird ein weitverbreiteter Denkmaltypus. Auf manchen grossen Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges, namentlich längs der ehemaligen Frontlinien in den Dolomiten, entstehen Kriegergedenkstätten von manumentalen Ausmassen. Heute besitzt fast jedes Dorf ein Denkmal für die Gefallenen der beiden Weltkriege. Der wirtschaftliche Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg spiegelt sich auf zweirlei sehr seltsame Weise in der Welt der Flurdenkmale wider. Die Vervielfachung des motorisierten Verkehrs zeigt sich in einer Fülle einfachster Marteln längs der gefährlich gewordenen Landstrassen. Die Vermehrung der Freizeit bescherte eine, vordem, ungeahnte Fülle von Unfällen in allen gefahrlichen Sportarten, die nun auch in die Welt der Marteln Eingang gefunden haben: DIe zahllosen Marterln für verunglückte Drachenflieger und Gleitschirmflieger fast schon antiquiert.
Neben diesem seltsamen „Zuwachs“ erlebt die Welt der Flurdenkmale heute jedoch wiederum einen erschreckenden Schwund und „Ortswechsel“. Die Gefährdung der alten Steinkreuze ist vor allem ein Ergebnis des gewaltigen kulturlandschaftlichen Wandels der letzten Jahrzehnte. Manches Kreuz, das in einsamer Landschaft einen ungestörten Platz hatte, sieht man plötzlich von neuen Häusern umringt; manches andere hat die Ruhe des Feldes mit einem Fabrikhof eintauschen müssen, und viele weitere sind an dem Rand moderner Asphaltstrassen zu stehen gekommen. Die Umwandlung der Kulturlandschaft hat viele ihrer einstigen Wahrzeichen in Gefahr gebracht - vor allem aber sind es auch die Mittel, deren sich der Mensch zu dieser Umgestaltung bedient: der Technisierung in allen Arbeitsgebieten sind die unbeweglichen Steinmäler nicht gewachsen, vor einem Schlepper, vor einem Bagger kapitulieren sie. Schliesslich ist es auch die innere Wandlung der Zeit, die den Weg frei gibt zur Zerstörung dieser einst viel beachteten Denkmäler der Flur. Der ehemals bedeutsame alte Stein draussen ist ein unbedeutendes Denkmal geworden, das niemand mehr aufregen kann. Entmachtet, entzaubert, vom Schlepperfahrer verächtlich übersehen, ragt das Steinkreuz aus alter frommer Zeit in die technisierte, motorisierte Welt, ein übles Relikt schon, ohne Nutzen und höchstens im Weg bei der Bestellung der Flur. Der trostlose Zustand vieler hundert steinerner Kreuze und die dauernd steigende Verlustziffer verdeutlichen die Uberlebtheit der kleinen Dnkmäler. Nicht nur unbeachtet und überflüssig, sogar unerwünscht ist das Steinkreuz vielfach geworden. Es hindert oft genug die bis in den kleinsten Winkel vorgedrungene maschinelle Bearbeitung des Landes. Abergläubische Haltung, die das Denkmal früher schonen liess, ist neuem Wirtschaftssinn gewichen: was nichts einbringt und nur stört, das soll verschwinden. Es bliebe der Weg ins Museum, und tatsächlich sind eine ganze Anzahl steinerner Kreuze schon dort angekommen.
Strasenbau und Intensivnutzung dezimieren immer noch den Bestand an Flurdenkmalen oder sorgen für eine wahllose Versetzung an eine neue, „Passende“ Stelle. Schliesslich nagt de Zahn der Zeit, neuerdings unterstützt vom „sauren Regen“ stetig an allen unseren Flurdenkmalen und manche wohlgemeinte, aber laienhafte Restaurierung zerstört den letzten Rest an Originalität. Besonders tragisch erweiist sich in Einzelfällen ein Baum oder ein Baumpaar, das vor Jahrhunderten im Zuge des Baues eines Kapellchens als flankierendes Element gepflanzt wurde: Das Wurzelwerk des meterdick angewachsenen Stammes hat schon manches Kapellengemäuer defmormiert und ruiniert. In manchen Fällen aber ist der Eigentümer der gefährlichste Feind eines Flurdenkmals, weil es, im Acker oder Kornfeld befindlich, seinen modernen Erntemaschinen im Wege steht: „Wenn ihr den alten Grenzstein nicht abholt, schieb ich ihn mit meinem Traktor über den Haufen und fahr ihn zur nächsten Müllhalde“ - ein nicht seltener Anruf am Landratsamt! Mancher Kreisheimatfpfleger oder Denkmalschutzbeaufragte muss heute die Patenschaft über „herrenlose&blquo; oder „verstossene&blquo; Flurdenkmale übernehmen.
In merkwürdigem Gegensatz zu dieser Missachtung der eigenen Tradition und ihrer Kulturgüter steht ein anderes Gegenwartsphänomen: „Der sentimentalische Blick“ auf verloregehende und abgekommene Bräuche und Trachten, Lieder und Sagen, die rückgewandte Haltung der Smmler, Heimatforscher und Heimatschutzbewegungen ist in volkstümliche Gefilde selbst eingedrungen. Altes Brauchtum und Kulturgut wird als Gut und Wert bewusst, wird neu hervorgeholt und vorgeführt, ein wesentlicher Zug moderner Volkskultur. Auch die Steinkreuze und ihre Sagen sind in diesen Prozess mit einbezogen; sie werden aufgegriffen in Heimatbuch und Heimatzeitung, in Schule und Rundfunk und schliesslich in volkstümlichen Kreisen selbst; Zerfall und Verlust folgt Neuaufnahme aus veränderter Sicht, Wiederbelebung und Pflege. Eifrig werden die alten Sagen an den Mann gebracht, als Volssagen bewundert und gehütet, verehrt und verrätshelt; jeder kennt sie und ist stolz, sie zu berichten; oft sind es Sagenblüten, aus schriftlichen, pseudopoetischen Gebilden aufgenommen.
Der zunehmende Wohlstand in Verbindung mit der sogennannten Nostalgie-Welle zog auch eine neue Form der Kriminalität nach sich: der wahllose Souvenirdiebstahl macht neuerdings selbst vor solchen Objekten nicht halt, die von profesionellen Antiquitäten-Dieben verschmäht werden und der Souvenirdieb wird von keinerlei Unrechtsbewusstsein geplagt. So kommt es, das man allmänlich alles „Handliche“, vor allem Kapelleninventar, Kruzifixe und Marterln hinter schweren Gittern verschliessen oder in Heimatmuseen bergen muss.
Droht eine neuerliche Entleerung der Kulturlandschaft? Ein Zyniker würde sagen, es sei nur ein „Möblierungs-Wechsel“: Verkehrs, Hinweisschilder und Reklameobjekte aller Art säumen nun unsere Strassen und Plätze und als Ersatz für manche verschwundene Wegkapelle bietet sich ein Bus-Wartehäuschen, eine Trafo-Station oder eine Telefonzelle als optischer Ersatz an und es gäbe ohnehin keine Kulturlandschaften mehr, allenfalls noch „Regionen“, wie man heute zu sagen pflegt.